Anke Volkmer
Weiß ist eine dreckige Farbe
Von der zunächst absurd anmutenden Behauptung »Weiß ist eine dreckige Farbe« ausgehend entwickelte Anne-Katrin Puchner die Rauminstallation Ohne Titel. Die Künstlerin knüpft an ein Paradox an, denn die Farbe Weiß wird mit Reinheit assoziiert, aber auch mit Neubeginn, welcher immer auch einen transformatorischen Prozess beinhaltet. Weiß ist zunächst einmal neutral, was die Farbe zu einem idealen (Bild-)Träger und somit zur Basis für den schöpferischen Prozess werden lässt. Ein weißes Blatt Papier, eine weiße Leinwand oder wie im Fall des Ratssaals des Schloss Neersen der weiße Netto-Raum, markiert den Ausgangspunkt für eine künstlerische Auseinandersetzung, die sich jedoch nicht auf der Wand, nicht auf Papier oder Leinwand und nicht auf einem Sockel manifestiert, sondern unmittelbar in der Unberührtheit des dreidimensionalen Raums stattfindet. Indem Anne-Katrin Puchner die Farbe Weiß nun aber als »dreckige Farbe« bezeichnet, lässt erahnen, dass der Ansatz ihrer Arbeit darin liegt, tradierte Bedeutungen zu hinterfragen und allgemeine Vorstellungen und Werte auf den Kopf zu stellen, ja sogar die Existenz einer allgemeingültigen Aussage zu bezweifeln, um damit den Blick auf eine neuartige und vielschichtige Erlebniswelt zu öffnen, auf die Installation Ohne Titel.
Die Künstlerin arbeitet installativ und meist ortsbezogen, was bedeutet, dass sie auf die jeweilige individuelle Spezifik und Atmosphäre eines Ausstellungsraums eingeht. Bei der ersten Begehung des Ratssaals ist ihr sofort die Betondecke mit ihren eigentümlichen Positiv-Negativ Volumina ins Auge gefallen, die sie als starken Kontrast zu dem sonst sehr klassischen Erscheinungsbild des restlichen Raums wahrnahm und deshalb zum Impulsgeber ihrer Installation machte.
Anne-Katrin Puchner selbst hat ihre Vorgehensweise mit den folgenden Worten beschrieben: »Als Kind bin ich immer einen Spiegel vor mir haltend durchs Haus gegangen, wobei ich nach unten auf den Spiegel gesehen habe, mein Blick aber durch den Spiegel nach oben gerichtet war. So habe ich mir vorgestellt, dass Oben Unten ist. Ein sehr eigentümliches Körpergefühl. Oben und Unten waren aufgehoben. Je nachdem, wohin ich meine Aufmerksamkeit lenkte, war Oben oder Unten oder beides. Dieses Gefühl wollte ich umsetzen, den Raum erkunden, eine Spur hinterlassen, wie einen Kondensstreifen oder eine Sternschnuppe.«
Ein Ausspruch des amerikanischen Filmregisseurs David Lynch blieb ihr dabei besonders im Gedächtnis: »Es gibt so viel Geheimnisvolles, wenn man ein Kind ist. (…) Mit dem Erwachsenwerden glauben wir die Gesetze zu verstehen, doch in Wirklichkeit erleben wir eine Verarmung der Phantasie.«[1]
Diese Umkehrung von Oben und Unten realisierte die Künstlerin nun in unmittelbarem Bezug auf die Proportion der vorgefundenen baulichen Situation. Sie wählte dazu mit Spiegelfolie bezogene Latten aus, die sie beinahe skizzenhaft zu einer flirrenden skulpturalen Installation zusammenfügt, um ihr Raumgefühl in Richtungen, Perspektiven und Bewegungen umzusetzen, gleich einer dreidimensionalen Zeichnung oder einem eingefrorenen Moment im Raum.
Die an Schraffuren erinnernden Spiegellatten erstrecken sich zunächst noch geerdet und dann an Drähten aufgehangen in einer rhythmischen Bewegung in die Höhe, erkunden als abstraktes Liniengewebe den Raum, verdichten sich zu Zentren besonderer Konzentration, werden gestoppt, umschreiben Ruhepole – wie den im Raum befindlichen Konzertflügel – um sodann anzuschwellen und auszuschwärmen, wie um die Grenzen des Raums zu überwinden.
In der Dynamik und Flüchtigkeit glaubt man sich fast an den rhythmisch-expressiven Ausdruckstanz erinnert, beispielsweise den einer Gret Palucca, deren Auftritt im Dessauer Bauhaus 1927 László Moholy-Nagy bildhaft beschrieb und der an dieser Stelle im übertragenen Sinne zitiert werden soll: »Palucca verdichtet den Raum, sie gliedert ihn: Der Raum dehnt sich, sinkt und schwebt – fluktuierend in allen Richtungen.«[2]
Auch der Spiegel, mit dem die Künstlerin den Saal abgeschritten und ausgelotet hat, vermag den Blick in alle Richtungen zu erweitern. Er lässt kontinuierlich neue Bilder entstehen, jedoch bleiben diese stets ungreifbar.
Slavko Kacunko fasste in einer kunsthistorischen Untersuchung die Eigenschaften des Spiegels folgendermaßen zusammen:
»Mit Hilfe des Spiegels kam der Mensch nicht nur sich selbst, sondern auch den unendlichen Fernen des Universums näher als mit irgendeinem anderen Medium. Als Medium der Selbsterkenntnis fand der Spiegel die Grenzen seiner wissenschaftlichen Rezipierbarkeit in der Selbstbezüglichkeit, dem großen Thema aller psychoanalytisch orientierten Forschungsansätze. Als Leerstelle der Welterkenntnis bekamen Spiegel eine wissenschaftliche Perspektive vor allem jenseits ihrer eigenen Medialität in Bildern und Metaphern [...].«[3]
Bereits im historischen Kontext der Schlossarchitektur stand der Spiegelsaal des Barock, man vergegenwärtige sich beispielsweise Versailles, in der Verbindung von Spiegeln, Fensterausblicken und illusionistischen Deckengemälden für eine Erweiterung des Lebensraums. Und wie sich in den Spiegeln tagsüber einfallendes Licht und die Parkansicht sowie am Abend das festliche Kerzenlicht reflektierten, reagiert Anne-Katrin Puchners Installation auf das Licht im Saal, bricht es prismatisch und wirft Schatten auf Wände und Boden.
Anne-Katrin Puchners Bildsprache ist zunächst in der Moderne verankert. Anknüpfend an die reinen Formen und geometrischen Kompositionen jenseits des rechten Winkels der russischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts bricht sie mit den klassischen Regeln der Komposition. Sie überführt diese formale Struktur in die Nähe zu dem aus der Architektur hervorgegangenen, postmodernen Begriff des Dekonstruktivismus. Genau wie dieser bedeutet aber Anne-Katrin Puchners Werkansatz nicht De-Konstruktion im Sinne von Zerstörung, sondern vielmehr eine analytische Offenlegung von Strukturen, deren Aufbrechung, und die daraus resultierende Sichtbarmachung von Instabilität.
Zur Veranschaulichung dieser These sei hier noch Mark Wigley zitiert, der in den 1980er Jahren zusammen mit Philip Johnson den Begriff der Dekonstruktivistischen Architektur maßgeblich geprägt hat: »Ein dekonstruktiver Architekt ist deshalb nicht jemand, der Gebäude demontiert, sondern jemand, der in den Gebäuden inhärente Probleme lokalisiert. Der dekonstruktive Architekt behandelt die reinen Formen der architektonischen Tradition wie ein Psychiater seine Patienten – er stellt die Symptome einer verdrängten Unreinheit fest. Diese Unreinheit wird durch eine Kombination von sanfter Schmeichelei und gewalttätiger Folter an die Oberfläche geholt: Die Form wird verhört.«[4]
Neben den die Form betreffenden Eigenschaften bestimmen verschiedene andere Determinanten die Wahrnehmung eines Werkes: Raum, Licht und die aus der physischen Präsenz des Betrachters resultierende Perspektive, wie der amerikanische Künstler Robert Morris in einer Reihe von 1966 im Amerikanischen Magazin Artforum erschienenen Essays »Notes on Sculpture« konstatierte.
Er erkannte, dass die Bewegung des Betrachters im Raum eine Erfahrung des Werkes in der Zeit erlaubt. Diese Gleichzeitigkeit von Raumerfahrung und Werkrezeption stellte eine der wesentlichen Errungenschaften der Minimal Art dar. Morris fasste damit den Wandel des Verständnisses der Wahrnehmung und Rezeption sowie der wechselseitigen Beziehungen zwischen Betrachter und Kunstwerk zu einem wegweisenden neuen Werkbegriff zusammen.
Anne-Katrin Puchners Installation Ohne Titel greift diesen Gedanken auf, entwickelt aber durch die Unterwanderung von formalen, inhaltlichen und rezeptionsseitigen Erwartungen eine neue Bildvorstellung und Erfahrungswelt. Erst mit ihrer echohaften Intervention in die Raumorientierung erschließt sie das räumliche Volumen und lässt es zum eigentlichen Bildträger werden. Sie nutzt das Potenzial einer nahezu entmaterialisierten Skulptur, um den Betrachter den konzeptuellen und performativen Prozess der Raumerkundung nachvollziehen zu lassen. Der von ihr im Dialog mit der Spezifik des Orts entwickelte installative Raum wird für den Betrachter nunmehr sowohl als physisch präsentes Objekt wie auch als imaginierter Raum erfahrbar. Im Moment der ästhetischen Erfahrung lässt die Künstlerin den Betrachter aber die Synthese dieser beiden Anschauungsräume vollziehen und ihn teilhaben an einem subjektiv erlebbarem Gesamtraum.
[1] David Lynch in: »Lynch über Lynch«, Hrsg. v. Chris Rodley, Frankfurt/M., 2006, S.30.
[2] Moholy-Nagy, László. »Tanz Palucca, Prospekt IV, 1926/27«, zit. n. Sorg, Reto: Der Tanz und das »Gesetz der Bewegung« bei Paul Klee. Anmerkungen zu einer Pathosformel der Moderne, in: Paul Klee. Melodie/Rhythmus/Tanz, Ausstellungskatalog Museum der Moderne, Hrsg. v. Toni Stoss, Salzburg, 2008, S. 229.
[3] Kacunko, Slavko. »Der Spiegel, der Rahmen und der Wille zur Macht der Bilder. Auszüge aus einer Kunstgeschichte des Spiegels im Zeitalter des Bildes«, in: Rahmen. Zwischen Innen und Außen: Beiträge zur Theorie und Geschichte. Hrsg. v. Hans Körner/Karl Möseneder, Berlin 2010, S. 259.
[4] Mark Wigley in: Johnson, Philip/Wigley, Mark: »Dekonstruktivistische Architektur«. Stuttgart 1988, S. 11.